Magische Fotos aus meiner Kindheit habe ich nicht
und selbst wenn ich welche hätte, hätte ich sie längst mit irgendeinem
Zauber zerstört. Ich will weder in das hässliche Gesicht meines alkoholsüchtigen
Vaters blicken, wenn ich irgendeine Seite aufschlage, noch diesen falschen Blick meiner Mutter,
den sie immer dann aufgesetzt hatte, wenn mein Vater seine Wut an mir ausließ.
In der Vergangenheit graben war noch nie so mein Ding.
Nichtsdestotrotz habe ich immer noch Fotografie und natürlich Erinnerungen von früher
die ich auch nicht zerstören werde.
Das ist Luke.
Beziehungsweise...
...das war Luke.
Luke war mein allerbester (und einziger) Freund.
Ich gebe nicht gerne zu, wenn ich einen Menschen in mein Herz geschlossen
habe aber bei Luke bin ich ehrlich.
Er war immer da, wenn ich ihn gebraucht habe.
Er hat mich versucht zu beschützen und das ein oder andere blaue Auge
dafür kassiert. Von meinem Vater höchstpersönlich, dem es gleichgültig war,
ob das Kind an dem er Gewalt ausübte sein eigenes war oder nicht.
Bei Luke konnte ich so sein wie ich wirklich bin.
Was nicht oft vorkommt.
Besser gesagt kommt es eigentlich nie vor.
Nicht mehr zumindest.
Seit meine Schwester in Deutschland studiert und ich sie seitdem auch
nicht mehr gesehen oder gehört habe, gibt es niemanden mehr.
Und nein, Luke hat sich nicht von mir abgewandt oder so.
Er war eines Tages einfach nicht mehr da.
Keiner wusste wo er war.
Noch nicht einmal seine Mutter und die wurde eigentlich
immer kontaktiert.
Aber noch nicht einmal ich wusste etwas.
Wenn er Probleme hatte, und die hatte er eigentlich nie;
ich war eher die Person mit den Problem,
dann wäre ich die Erste gewesen, der er es gesagt hätte.
Aber an diesem einen Tag war alles anders.
Zuerst habe ich mich gewundert, dass er nicht an unserem
vereinbarten Treffpunkt erschien.
Nach einem Anruf bei ihm zuhause war mir klar,
dass er zumindest losgegangen war.
Aber er kam nie an.
Zuhause hatte mir niemand zugehört und ernst genommen
wurde ich erst recht nicht, deshalb wandte ich mich an Luke's Familie.
Seine Mutter war krank vor Sorge und das war das erste und
einzige Mal, dass ich vor anderen Personen angefangen habe
zu weinen.
Vielleicht war die Erkenntnis, dass meine Mutter nie so reagieren würde,
wenn etwas mit mir wäre, der Auslöser.
Aber ich glaube auch der Gedanke, dass Luke sich auf den Weg gemacht hatte,
mich zu sehen, weil ich mal wieder ein Problem zuhause hatte, und dabei
verschwand.
Ich machte mir Vorwürfe, keine Frage.
Und das mache ich mir eigentlich nie.
Nicht mehr.
Ich ging Situationen durch und ob mir entgangen war, dass es Luke vielleicht
doch nicht so gut ging, wie er es immer gesagt hatte.
Aber ich kam auf nichts.
Ich hatte ihn auch immer tausendmal gefragt und zurück bekam ich nur:
"Mach dir keine Sorgen um mich, Prinzessin."
Luke's Mum gab am selben Abend noch eine Vermisstenanzeige auf.
Ich wurde von ihr nachhause gebracht (auch wenn wir nebeneinander wohnten), da ich nichts ausrichten konnte.
Dass meine Mum sie in der Tür mit einem kalten Nicken begrüßte
und sich später im Haus mit einer eifersüchtigen Stimme
über Luke's Familie auskotzte,
interessierte mich wenig.
Ich schaltete wie immer auf Durchzug.
Luke hatte auch kein Handy.
Das war so eine Regel zwischen uns.
Ich hatte meins auch zerstört.
Mein Zimmerfenster war auf der Höhe von seinem Fenster.
Wir hatten eine Art Seilbahn aus meinem Fenster, über unseren Garten
und den Zaun, der uns von Luke's Familie trennte, bis in sein Fenster
gespannt und hielten über Zettel Kontakt.
Treffen wurden eingehalten und keiner musste den anderen
unnötig Nachrichten schicken oder anrufen.
Ich konnte die Nacht über nicht schlafen.
Ich saß ununterbrochen an meinem Fenster und starrte nach drüben.
Als am frühen Morgen das Licht in seinem Zimmer anging,
riss ich direkt mein Fenster auf.
Es war aber nur seine Mum, die mich erblickte und traurig
und auch entschuldigend den Kopf schüttelte.
Zwei Stunden später klingelte es an der Tür.
Als ich nach unten kam, saß meine Mutter stocksteif auf dem Sofa.
Ihr Gesicht bleich wie eine Wand und mir schien es,
als wollte sie mich in den Arm nehmen
aber nach einem Blick von meinem Vater,
der gelangweilt in seinem Sessel saß,
ließ sie die Arme wieder sinken.
Erst dann bemerkte ich die zwei Polizisten.
Bzw. einen Polizisten und eine Polizistin.
Der männliche Bulle nickte mir formell und neutral entgegen,
seine Kollegin hatte einen anderen Blick, der mich stutzig machte.
Ich sah fragend zwischen meinen Eltern und den ungeladenen
Gästen hin und her und Panik stieg in mir auf.
Nicht das...
... und es lief mir eiskalt den Rücken hinunter, als die Polizistin genau das aussprach,
wovor ich mich so gefürchtet hatte.
"Wir haben deinen Freund Luke Portman gefunden haben."
Sie blickte zu ihrem Kollegen, der kurz Luft holte, mich ansah
und den Satz sagte, den ich mein ganzes Leben nicht vergessen werde.
"Seine Leiche wurde in einem Waldstück gefunden."
Ich weiß nicht mehr, was genau mir in diesem Moment durch den Kopf ging.
Ich glaube gar nichts.
Ich glaube, mir kam es so vor, als hätte ich nie Sprechen gelernt.
Als könnte ich das Alphabet nicht.
Mein Kopf war einfach leer.
Und ich stand einfach nur regungslos da bis ich langsam und monoton
den Weg nach draußen fand.
Luke's gesamte Familie war auf der Straße vor ihrem Haus.
Und sein Vater war der erste, der mich erblickte.
Seine Mutter kam direkt auf mich zugelaufen und sagte irgendetwas zu mir.
Aber ich konnte sie nicht hören.
Ich nahm gar nichts wahr.
Weder, dass sie mich an sich drückte, noch das liebevolle, tröstende Streicheln
über meine Haare.
Ich fühlte nichts mehr.
Weder bei seinem Abschied in der Kirche, in die ich normalerweise nie ging,
bei der seine Mutter mir die Chance gegeben hatte, etwas zu sagen, ich
aber wortlos vorne stand und keinen Ton herausbekam, noch bei
seiner Beerdigung.
Ich hatte die wichtigste Person in meinem Leben verloren.
Und ich konnte mich nicht von ihm verabschieden.
Was genau mit ihm passiert war, kann ich nicht sagen,
weil ich nicht mehr daran denke möchte.
Es ist eine Erinnerung die tief in meinem Kopf
aber auch in meinem Herzen eingebrannt ist.
Ob ich je wieder so ein Vertrauen aufbauen kann,
bezweifle ich.